Zur Frage "Was ist Karma?"

Hallo liebe Leserinnen, Leser und Fragende,

 

Sie sehen in der Überschrift eine Frage, die mir gestellt wurde.

Die Frage ist Komplex und die Antwort ebenso. Meine Antwort wird keine wissenschaftliche Abhandlung werden, sondern ich werde ihnen mit meinen eigenen Worten und möglichst wenig Fachbegriffe einen Teil dessen wiedergeben, was ich bisher aus meinem Studium dazu verstanden habe und auch in Indien selbst beobachtet habe und mir dazu erzählt wurde.

Bitte beachten sie, dass die Verlinkungen zu den Wikipedia-Artikeln, die ich hin und wieder hier mache, dem Verständnis dienen sollen und die Wikipedia-Artikel zu den Fachbegriffen von mir angeschaut wurden. Diese Artikel bilden einen kleinen einführenden Einblick in sehr weite komplexe Themenspektren und wissenschaftlichen Debatten und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In Universitäten ist das Zitieren von Wikipedia nicht erlaubt aber da es sich hier nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung handelt, soll Wikipedia einem grundliegenden Verständnis dienlich werden.

Die Frage zum Karma kann aus verschiedenen Perspektiven und hier nur stark vereinfacht ohne Anspruch auf Vollständigkeit beantwortet werden . Ich werde mich auf drei Perspektiven beschränken:

Zum Ersten die religionsethnologische Perspektive, die sich in der Beantwortung vor Allem die religiöse Bedeutung des Karma-Konzeptes im Zentrum stellt.

Zum Zweiten werde ich ein wenig aus der etnosoziologischen Perspektive auf dem Konzept des Karma schauen und wie sich dieses kulturspezifisch auf die Ausgestaltung der jeweiligen Gesellschaft auswirkt.

Zum Dritten werde ich das Konzept des Karma aus dem Spektrum der kognitiven Ethnologie beleuchten.

 

Der Begriff Karma kommt aus dem Sanskrit und wird in den damit in Verbindung stehenden Kulturen mit den dazugehörigen religiösen Bewegungen Hinduismus, Buddhismus, Zen, Jainismus und weitere verwendet. Eine linguistische Abhandlung zum Begriff werde ich hier nicht geben. Aber was Karma tatsächlich für die praktizierende Bevölkerung der jeweiligen religiösen Bewegung bedeutet und wie der Begriff spezifisch definiert und interpretiert wird, kann sich in einigen Aspekten der jeweiligen Bewegung unterscheiden. Welche Aspekte es sind, wo sich die Unterschiede finden und welches die Gemeinsamkeiten sind, damit beschäftigt sich u.a. die Indologie sowie auch die Religionswissenschaft. Um eine genauere Betrachtung der jeweiligen religiösen Texte dazu sowie deren diversen Interpretationen, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind sowie den dazugehörigen Abhandlungen kommt man nicht Drumherum, wenn man denn ganz genau wissen will , was die praktizierenden Bevölkerung in den Heimatländern des Karma-Konzeptes darunter verstehen.


Es ist kaum möglich den Begriff mit "Schicksal" zu übersetzen, denn der Begriff "Schicksal" ist aus einer anderen, nicht-hinduistischen Linguistik heraus entstanden und schwer auf das Sanskrit anwendbar.

Die Ghats am Fluß Ganges in Varanasi, eine der heiligsten Stätten des Hinduismus - Uttar Pradesh - Indien
Die Ghats am Fluß Ganges in Varanasi, eine der heiligsten Stätten des Hinduismus - Uttar Pradesh - Indien

Vereinfacht kann man den Begriff Karma mit "Tat" übersetzen. Wenn wir den Begriff in den erwähnten religiösen Bewegungen benutzen dann ist Karma ein Erklärungsmodell zu einer Momentanen Lebenssituation in der sich jemand befinden kann und derer Ursache mit dem direkten Geschehen des derzeitigen Leben nicht einfach in Verbindung bringen und erklären lässt. Wenn wir also die Frage stellen würden, warum denn das derzeitige Leben für uns so ist wie es ist, also warum wir das tun was wir tun und die "Warum"-Frage immer weiter fragen, dann würde die Antwort "Es ist dein Karma" bedeuten, dass wir in einem früheren Leben die verursachenden Taten für unseren jetziges Leben vollzogen haben. Karma ist somit am Begriff Samsara eng gekoppelt, der ebenso ein zentrales Konzept in den genannten religiösen Bewegungen darstellt und stark vereinfacht als "Wanderung" zu verstehen ist. Die Wanderung durch Geburt, Leben und Tod, einen sich als immer wiederkehrenden Kreislauf gedachten Zyklus - Wiedergeburtszyklus Reinkarnation-, der unendlich weiter gegangen wird, wenn dieser Zyklus nicht unterbrochen wird. Zum unterbrechen dieses Zyklus haben diese verschiedenen genannten religiösen Bewegungen unterschiedliche Ansätze, auf die ich hier nicht näher eingehen werde.


Im Weltbild der genannten religiösen Bewegungen wird von einem solchen Wiedergeburtszyklus ausgegangen und dies bildet die Grundlage für das religiöse Verständnis des Karma-Begriffes. Die Weltbilder der Kulturen mit solchen religiösen Konzepten haben die Annahme des Wiedergeburtszyklus gemeinsam. Es ist wichtig das zu verstehen, wenn man denn das Konzept des Karma verstehen möchte. Die Voraussetzung der Nutzung des Begriffs Karma ist somit die Annahme des Samsara als Grundlage des eigenen Weltbildes.

 

Nun um es verständlich auszudrücken: Gute Taten im letzten Leben haben zu gute Voraussetzungen für dieses Leben geführt und Gutes kann einem in der Zukunft wiederfahren wenn man Gutes im jetzigen Handeln fördert. Wenn aber im jetzigen Leben weniger gutes wiederfährt und Unglück passiert, dann wird davon ausgegangen dass die Gründe dafür im letzten Leben, oder in einem der unendlich vielen letzten Leben durch das eigene Handeln verursacht wurde.

 

Nun gehen wir über zur ethnosoziologischen Perspektive und der Bedeutung dieses Konzeptes für die betreffenden Kulturen. Wenn wir uns vorstellen, wie unterschiedlich Reichtum und Armut zum Beispiel in manchen Ländern verteilt ist und wie Unberechenbar das Leben sein kann, auch wie erfüllt es sein kann, dann ist Karma hier eines der wichtigsten Werkzeuge, um die Akzeptanz des eigenen Lebens zu fördern und es trotz Hindernisse und Unglück weiter zu leben. Wenn also die Frage aufkommt, warum "es einen so schwer trifft" oder "warum gewisse Ereignisse eingetroffen sind", dann hilft das Konzept Karma dabei, die Situation zu akzeptieren und sich eher Lösungsorientiert dem Verlauf des Geschehens zu widmen und bis zu gewissen Grenzen die Steuerung des Geschehens wieder zu übernehmen und sich nicht in der Beantwortung der Frage des "Warum" zu verirren. Tatsächlich kann dieses Konzept eine "depressionsmindernde" Wirkung haben und Trost bieten.


Gleichzeitig gibt es aber auch einen einschränkenden Aspekt: Sich mit einer Situation abzufinden oder abfinden zu müssen kann bedeutet auch davon auszugehen, dass die Situation nur bedingt verändert werden kann. Selbst wenn die Situation unangenehm zu bleiben droht, kann das Konzept des Karma dazu führen dass kein Ausweg aus der Situation gefunden wird. Das Prinzip des "Lebens als Leiden" kommt hier zum Tragen und bildet wiederum die Grundlage für die sich herausgebildeten spezifischen Konzepte um aus dem Leiden, in dem Falle des Samsara als Leidenszyklus herauszukommen. Im Buddhismus wird dieses Prinzip im Konzept der Vier Edlen Wahrheiten ausgeführt.

Mahabodhi-Tempel in Bodhgaya, eine der heiligsten Städte des Buddhissmus - Bihar - Indien
Mahabodhi-Tempel in Bodhgaya, eine der heiligsten Städte des Buddhissmus - Bihar - Indien

Ich möchte dazu ein konkretes Beispiel geben:

In der hinduistischen Kultur gibt es das Kastenwesen. Dieses Kastenwesen hat hierarchische Abstufungen: Brahmanen (Priester) als oberste angesehenste Kaste, Kshatryas (Krieger, Könige und Fürsten) darunter, Vaishas (Händler, Ackerbauer, Viehzüchter und Handwerker) und darunter die Shudras (Diener und Arbeiter). Hierarchisch unter diesen befinden sich die Unberührbaren genannt Parians und den Menschen die nicht zu den Kasten gehören, die Harijans. Karma ist in den Zusammenhang als eine angeborene Kastenzugehörigkeit zu verstehen, die im Leben nicht verändert werden kann. In den Kasten wird man Hineingeboren und ein Einheiraten in eine höhere Kaste kaum möglich. Die Kasten werden als Endogam gelebt (komplexes Thema, kurz gesagt wird nur innerhalb der jeweiligen eigenen Kaste geheiratet). Es wird davon ausgegangen, dass es das eigene Karma ist wenn man nun in der Kaste der Shudras zum Beispiel hineingeboren wurde und das Bestreben aus dieser Kaste herauszukommen und sein Ansehen zu erhöhen wird kaum nachgegangen und als Unmöglich erachtet. Im Gegenteil, es kann vorkommen, dass die schwierigen unlösbaren Umstände so gedeutet werden, dass in dieser Kaste verblieben werden muss denn dies eben sei das eigene Karma und so nicht veränderbar. Veränderbar ist dieses Karma dann durch gute Taten erst zum nächsten Leben hin und durch eine intensivere religiöse Praxis in der hinduistischen Kultur selbst, die jedoch wiederum die Macht der Brahmanen stärkt und das Kastensystem so in sich selbst aufrechterhält. Um das eigene Karma zu beeinflussen werden u.a. diverse Gottheiten in verschiedensten Ritualen um Hilfe gebeten.

Nun möchte ich kurz auf das kognitive Bedeutungsspektrum der „modernen“ Nutzung des Karma-Konzepts eingehen.

Die Weltbilder, die am Karma und Samsara gekoppelt werden, haben Auswirkungen auf die persönliche Wahrnehmung des eigenen Lebens, Verstehens und Handelns. Weltbilder haben diese Auswirkungen Grundsätzlich. Sie werden soziokulturell erlernt und tradiert weitergegeben. Das Wissen, was sich hier im Laufe der Zeit angesammelt hat und gelebt wird, bildet ein sehr stark ausdifferenziertes spezifisches soziokulturelles Gebilde was man als Kultur bezeichnen kann. Das Erscheinungsbild der Kultur ist vom diesem Wissen abhängig, was in der jeweiligen Kultur vorherrscht und dem Weltbild, dass in der jeweiligen Kultur gelehrt und tradiert wurde. Die Rituale, die Erklärungsmodelle und die eigene Wahrnehmung sind an diesen Gebilden gekoppelt und wir können an deren Diversitäten teilhaben und diese als Ganzheitlich respektieren. Das Unterfangen, das Konzept des Karma zum Beispiel von deren Ursprünge und dazugehöriges Weltbild sowie der dazugehörigen Kulturelemente abzukoppeln und es Vereinzelt zu betrachten oder/und zu adaptieren, so wie es hin und wieder in der "modernen" Welt stattfindet, ist nicht immer Sinnvoll und Hilfreich denn es birgt in sich wie ausgeführt ein großes Spektrum an weitere Konzepte die es ebenfalls übernommen werden müssen und mitschwingen, wenn denn das Konzept des Karma auch auf das eigene Weltbild Wirkung haben soll.


Wenn wir andere Kulturen respektieren wollen, dann bedeutet es auch deren Weltbilder, Konzepte und Erklärungsmodelle auch in ihrer Ganzheit zu betrachten und vorsichtig mit deren Begriffe umzugehen. Wenn wir vereinzelt Begriffe Nutzen, dann schwingen hier ganze Welten mit, von denen wir manchmal gar nicht genau wissen können, was sie eigentlich bedeuten. Ich empfehle daher bei der Nutzung von solchen Fremdbegriffe aufzupassen und sie eher zu meiden, wenn man mit dem dahinterliegenden Weltbild nicht vertraut ist.


Ich hoffe, dass diese Ausführungen zum Karma den Fragenden weitergeholfen haben. Es war mir eine Freude es zu schreiben. Wenn Literaturempfehlungen erwünscht sind, dann werde ich diese auf Anfrage durch die Kommentarfunktion ergänzen.

 

Liebe Grüße,

Ricordii da Silva